Eichhörnchen aus Kassel

Artikel aus dem Hessisch-Niedersächsischen Anzeiger vom 11.11.2011

Deutsch-französische Freundschaft: Wie eine Soldaten-Kapelle in Falaise gepflegt wird

Am 9. März 1917 befehligte der Kasseler Leutnant Wilhelm Höhmann das Reserve-Infanterie-Regiment 236. Mit drei Stoßtrupps trifft er an diesem Tag auf den französischen Feind in der östlichen Champagne. Die Deutschen erleiden starke Verluste.

 

Um 16.25 Uhr fällt Leutnant Höhmann – seine Leute können sich gegen den im Graben liegenden Feind nicht weiter vorarbeiten. Der Tod ihres Kommandanten schockiert die Männer – sie ziehen sich zurück.

Im Schutz der Dunkelheit werden die toten Kameraden geborgen. Darunter der gefallene Leutnant Wilhelm Höhmann und der ebenfalls aus Kassel stammende Nikolaus Blumenstein, der als Musketier kämpfte. Die Deutschen begraben die Leichen auf einem kleinen Soldatenfriedhof in Falaise, einem Dorf, das wenige Meter hinter der Frontlinie liegt. Im Gedenken an die Kameraden bauen sie eine Kapelle.

 

Falaise
Das deutsche Kapellchen von Falaise – während der Erbauung ab Mitte 1917

 

Insgesamt wurden in Falaise, dem Dorf am Rande der Ardennen, in den Jahren 1917 und 1918 etwa 200 deutsche Soldaten beigesetzt. In der Friedhofskapelle bringt man eine Tafel mit den Namen der Gefallenen an, neben der Kapelle werden zwei Kiefern gepflanzt.

Fast 100 Jahre später hatte in Kassel niemand von der französischen Kapelle etwas gehört – bis auf Karl Freudenstein. Der Kasseler war jahrzehntelang Konferenzdolmetscher im Bundesverteidigungsministerium. Er wohnt auch heute noch in Bonn.

Eines Tages erzählte er den Mitgliedern des Kasseler „Cercle Francais”, der Gesellschaft für deutsch-französische Zusammenarbeit, von der Kapelle und ihrer Geschichte. Und Katharine Florin, die Zweite Vorsitzende der Gesellschaft, hörte besonders interessiert zu. Denn die studierte Romanistin hatte sich schon in ihrer Diplomarbeit mit deutsch-französischen Projekten beschäftigt. Ihr war schnell klar: Die Kapelle von Falaise ist ein Beitrag zur deutsch-französischen Verständigung. Ein kleiner Beitrag auf unterster Ebene, aber ein konkretes Projekt, bei dem man helfen konnte.

Denn jahrelang hatte sich niemand um die Kapelle gekümmert. Zwar hatte der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge die Gräber schon 1928 bis 1930 auf den zentralen Soldatenfriedhof nach Chestres umgebettet, die Kapelle drohte aber zu verfallen. Eine mächtige Kiefer könnte das Mauerwerk langfristig zerstören.

Gut, dass Katharine Florin einen Mann hat, der vom Fach ist. Olaf Florin ist Baumpfleger – einer dieser Männer, die in die Wipfel klettern, um Bäume zu sanieren und damit zu retten.

Die Florins reisten nach Falaise. Und wunderten sich: „Von Ressentiments bei den Einheimischen merkten wir als Deutsche nichts”, sagt Katharine Florin. Der Krieg gegen die Deutschen und die Folgen gehören für sie zum Alltag. Nicht weit weg von Verdun, wo die Erde noch immer Wunden hat, ist die Aufarbeitung der schrecklichen Kriegsjahre kein Thema – oder eines, das man im Alltag abhandelt: Die Frauen in Falaise benutzen für die Gartenarbeit deutsche Bajonette, die sie in der Erde gefunden haben.

Die Hilfe aus Kassel war also willkommen. Zwar kümmerte sich schon seit Jahren eine Reservistenkameradschaft aus Püttlingen im Saarland ebenfalls um die Kapelle – aber nun kamen die Baum-Experten aus Kassel. Die Bürger von Falaise staunten nicht schlecht, als Olaf Florin seinen Plan erklärte: Nicht die alte, mächtige Kiefer müsse weg, sondern das Dach der Kapelle sollte bei den Sanierungsarbeiten um den Baum gebaut werden.

Der Baumpfleger kletterte mit einem deutschen Kollegen in den Wipfel, sanierte den Baum – und hatte schnell einen Spitznamen weg: Die „Kasseler Eichhörnchen” wurden die Helfer aus Nordhessen auch in der französischen Presse genannt.

Mittlerweile dreimal waren Katharine Florin und ihr Ehemann Olaf in Falaise, um sich weiter um die Kapelle zu kümmern. Aus Bekanntschaften mit den Franzosen wurden kleine Freundschaften. Feinde – das ist heute im einstmals von Deutschen besetzten Falaise ein Fremdwort.

 

Eine Antwort auf „Eichhörnchen aus Kassel“

Schreibe einen Kommentar zu Timo Gälzer Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert